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Die Neurologie und Kreativität des Tagträumens

Autorenbild: Matthias KrönMatthias Krön

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Wer kennt es nicht aus früheren Zeiten: zielloses aus dem Fenster starren, ins Leere schauen, während man auf den Bus wartet. Diese Zeit ohne feste Intention ist durch das Scrollen und Swipen auf dem Handy ersetzt worden - daydreaming adieu? Geht uns dadurch etwas verloren, braucht unser Gehirn etwa diese Art von Ruhepausen genau so wie den Schlaf?


Tagträumen, dieses vertraute Abdriften der Gedanken in imaginäre Welten, wird oft als Zeitverschwendung oder Zeichen mangelnder Konzentration abgetan. Doch die Wissenschaft enthüllt zunehmend die faszinierende Komplexität dieses mentalen Zustands und seine Bedeutung für unsere Kreativität. Was genau passiert in unserem Gehirn, wenn wir tagträumen? Und wie beeinflusst dieses scheinbar passive Gedankenwandern unsere Fähigkeit, Neues zu erschaffen? Dieser Artikel befasst sich mit den neurologischen Prozessen des Tagträumens und erforscht, wie wir Tagträume gezielt zur Steigerung unserer Kreativität einsetzen können.


Tagträumen - die verloren gegangene Superpower
Tagträumen - die verloren gegangene Superpower

Neurologische Prozesse beim Tagträumen

Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass Tagträumen alles andere als ein passiver Zustand ist. Im Gegenteil, bestimmte Hirnregionen werden aktiv, wenn wir in unsere Gedankenwelt eintauchen (1). Eine Schlüsselrolle spielt dabei das sogenannte Default Mode Network (DMN), ein Netzwerk miteinander verbundener Hirnareale, das aktiv wird, wenn wir nicht auf die Außenwelt fokussiert sind (1). Das DMN ist an selbstbezogenen Gedanken, Zukunftsplanung und dem Abrufen von Erinnerungen beteiligt (1).


Ideen enstehen beim Nichstun
Ideen enstehen beim Nichstun

Drei wichtige Netzwerke sind am Tagträumen beteiligt: das Default Mode Network (DMN), das frontoparietale Kontrollnetzwerk und das externe Aufmerksamkeitsnetzwerk (1). Das DMN ist aktiv, wenn wir uns in unseren Gedanken verlieren, während das frontoparietale Kontrollnetzwerk unsere exekutiven Funktionen steuert und das externe Aufmerksamkeitsnetzwerk unsere Aufmerksamkeit auf die Außenwelt lenkt. Das Zusammenspiel dieser Netzwerke ermöglicht es uns, zwischen fokussierter Aufmerksamkeit und dem freien Fluss der Gedanken beim Tagträumen zu wechseln.


Forscher haben die Aktivität von Neuronen im visuellen Kortex von Mäusen während eines entspannten Wachzustands untersucht (2). Dabei stellten sie fest, dass diese Neuronen gelegentlich in Mustern feuerten, die denen ähnelten, die beim Betrachten tatsächlicher Bilder beobachtet wurden (2). Dies deutet darauf hin, dass die Mäuse die Bilder in ihren Tagträumen "wiederholten"(2). Überraschenderweise konnten diese Tagträume sogar zukünftige Veränderungen in der Reaktion des Gehirns auf Bilder vorhersagen, ein Phänomen, das als "Repräsentationsdrift" bezeichnet wird (2). Repräsentationsdrift beschreibt die Veränderung der neuronalen Muster, die mit der Verarbeitung eines bestimmten Reizes verbunden sind. Diese Drift kann durch Tagträume beeinflusst werden, die die neuronalen Repräsentationen im Laufe der Zeit verändern (3).


Die Aktivierung des DMN beim Tagträumen ist auch beim Menschen zu beobachten (1). Studien haben gezeigt, dass die Gehirnaktivität im visuellen Kortex zunimmt, wenn Menschen Bilder detailliert abrufen (4). Dies unterstützt die Annahme, dass ähnliche Prozesse wie bei den Mäusen auch beim menschlichen Tagträumen ablaufen (4). Die Ähnlichkeit zwischen dem Kortex von Mäusen und dem menschlichen Kortex unterstreicht die Relevanz dieser Studien für das Verständnis des menschlichen Tagträumens (3).

Zusätzlich zum DMN spielt der temporo-parietale Übergang (TPJ) eine wichtige Rolle bei der visuellen Vorstellungskraft während des Tagträumens (5). Der TPJ ist eine Hirnregion, die auch an der visuellen Vorstellungskraft im Wachzustand beteiligt ist und somit eine Brücke zwischen unserer Wahrnehmung der Realität und unseren inneren Bildern schlägt.

Das DMN besteht aus verschiedenen Hirnregionen, die jeweils spezifische Funktionen erfüllen:

Hirnregion

Funktion

Beispiel

Medialer präfrontaler Kortex (mPFC)

Selbstbezogene Gedanken, Zukunftsplanung, moralische Entscheidungen

z. B. sich selbst als erfolgreichen Künstler vorstellen

Dorsomedialer präfrontaler Kortex (dMPFC)

Selbstbezogenes Denken, soziale Kognition, Perspektivenübernahme

z. B. die Reaktion eines Freundes auf eine Idee vorhersagen

Ventromedialer präfrontaler Kortex (vMPFC)

Risikowahrnehmung, Angstverarbeitung, emotionale Regulation

z. B. die emotionalen Folgen einer Entscheidung abwägen

Posteriorer cingulärer Kortex (PCC)

Autobiografisches Gedächtnis, Zukunftsvisionen, Perspektivenübernahme

z. B. sich an ein vergangenes Ereignis erinnern und seine Bedeutung reflektieren

Precuneus

Selbstbewusstsein, episodisches Gedächtnis, Selbstreflexion

z. B. die eigene Rolle in einer sozialen Situation bewerten

Inferiorer Parietallappen (IPL)

Aufmerksamkeitssteuerung, soziale Kognition

z. B. zwischen den eigenen Gedanken und äußeren Reizen wechseln

Lateraler Temporallappen (LTC)

Semantisches Gedächtnis (Weltwissen)

z. B. auf allgemeines Wissen zugreifen, um eine Situation zu interpretieren

Hippocampus

Interaktion mit DMN-Regionen beim Abrufen von Erinnerungen und Zukunftssimulationen

z. B. vergangene Erfahrungen in Tagträume integrieren


Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass Tagträume möglicherweise eine aktive Rolle bei der Neuroplastizität spielen, also der Fähigkeit des Gehirns, sich an neue Erfahrungen anzupassen und zu verändern (4). Dies deutet darauf hin, dass Tagträumen nicht nur ein Nebenprodukt der Gehirnaktivität ist, sondern ein aktiver Prozess, der die Anpassungs- und Lernfähigkeit unseres Gehirns formt.


Darüber hinaus betonen Experten die Bedeutung von "Offline-Momenten" und stiller Wachheit für Lern- und Gedächtnisprozesse (3). Wenn wir uns regelmäßig Zeit für Tagträume und ruhige Reflexion gönnen, unterstützen wir die Konsolidierung von Erinnerungen und die Verarbeitung von Erfahrungen.


Tagträumen und Kreativität: Eine komplexe Beziehung

Diese neurologischen Prozesse bilden die Grundlage für die faszinierende Verbindung zwischen Tagträumen und Kreativität. Die Forschung zeigt einen engen Zusammenhang zwischen Tagträumen und Kreativität (6). Beide Prozesse weisen ähnliche kognitive Mechanismen und neuronale Grundlagen auf (6). Sowohl Tagträumen als auch Kreativität durchlaufen eine Phase der unbeabsichtigten Ideenfindung und eine Phase der bewussten Verarbeitung und Bewertung (6).


Psychologen vermuten, dass Tagträumen die Kreativität fördert, indem es die Reorganisation bestehender mentaler Bilder und die Bildung neuer, origineller Assozationen ermöglicht6. In Momenten des Tagträumens ist unsere Vorstellungskraft frei von äußeren Reizen und kann sich ungestört entfalten (7). Dies kann zu unerwarteten Einsichten und neuen Perspektiven führen (7). Tagträumen kann uns helfen, neue Verbindungen herzustellen und Möglichkeiten zu erkennen, die uns im fokussierten Zustand verborgen bleiben8.


Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass nicht alle Arten von Tagträumen die Kreativität gleichermaßen fördern (9). Experimente belegen, dass verschiedene Arten von Tagträumen unterschiedliche Auswirkungen auf die Kreativität haben können (7). Forscher unterscheiden verschiedene Arten von Tagträumen, die sich in Stil und Inhalt unterscheiden:

  • Positives-konstruktives Tagträumen: Geprägt von positiven Gedanken, Wunschvorstellungen und Neugier (6). Diese Art des Tagträumens ist mit erhöhter Kreativität verbunden (6).

  • Schuldhaft-dysphorisches Tagträumen: Geprägt von negativen Gedanken, Ängsten und Schuldgefühlen6. Diese Art des Tagträumens kann die Kreativität beeinträchtigen (10).

  • Schlechte Aufmerksamkeitskontrolle: Ist mit geringerer Kreativität verbunden (6).

  • Fantasievolles Tagträumen: Geprägt von fantastischen Geschichten und imaginären Welten9. Diese Art des Tagträumens ist mit der Qualität kreativen Schreibens und dem alltäglichen kreativen Verhalten verbunden (9).

  • Bedeutungsvolles Tagträumen: Tagträume mit persönlicher Bedeutung und Wert für den Einzelnen (9). Diese Art des Tagträumens ist mit dem selbstberichteten kreativen Verhalten und der täglichen Inspiration verbunden (9).

Interessanterweise ist Tagträumen auch mit der autobiografischen Planung verbunden, also unserer Fähigkeit, uns zukünftige Ereignisse vorzustellen und unsere emotionalen Reaktionen darauf zu bewerten (11). Durch diese mentale Simulation können wir unsere gegenwärtigen Entscheidungen im Licht zukünftiger Möglichkeiten betrachten.


Tagträume gezielt zur Steigerung der Kreativität nutzen

Die Erkenntnisse der Forschung zeigen, dass wir Tagträume gezielt nutzen können, um unsere Kreativität zu fördern. Hier sind einige Techniken, die Ihnen dabei helfen können:

  • Schaffen Sie Raum für Tagträume: Planen Sie regelmäßig Zeit für Tagträume ein, in der Sie Ihre Gedanken bewusst schweifen lassen (8). Der Morgen nach dem Aufwachen oder eine Pause am Nachmittag eignen sich gut dafür (8).

  • Nutzen Sie Routinetätigkeiten: Verwandeln Sie alltägliche Aktivitäten wie Pendeln, Spazierengehen oder Hausarbeiten in Gelegenheiten zum Tagträumen8. Diese monotonen Aufgaben lassen mentalen Raum für Kreativität (8).

  • Entspannen Sie sich: Viele Menschen finden, dass ihre besten Ideen entstehen, wenn sie entspannenden, repetitiven Tätigkeiten nachgehen, wie z. B. Spazierengehen, Duschen oder Autofahren (12). Diese Aktivitäten erfordern nur minimale Konzentration und geben dem Geist Raum zum Wandern (12).

  • Halten Sie Ihre Tagträume fest: Schreiben Sie die Ideen auf, die Ihnen beim Tagträumen kommen8. So können Sie Muster und Verbindungen erkennen, die Ihnen sonst vielleicht entgehen würden (8).

  • Kombinieren Sie Tagträumen mit fokussierter Arbeit: Nutzen Sie Tagträume, um Ideen zu generieren, und wechseln Sie dann in einen aufgabenorientierten Modus, um diese Ideen weiterzuentwickeln (8).

  • Achten Sie auf wiederkehrende Themen: Wiederkehrende Themen, Bilder und Ideen in Ihren Tagträumen können auf Ihre tieferen kreativen Interessen hinweisen (8).

  • Meditation und Achtsamkeit: Meditation und Achtsamkeitsübungen können Ihnen helfen, Ihre Gedanken bewusst zu lenken und Ihre Konzentration zu verbessern (8). Gleichzeitig können Sie diese Techniken nutzen, um Ihre Fantasie anzuregen und Ihre Kreativität zu fördern (8).


Auch in der Arbeitswelt wird die Bedeutung von Tagträumen für die Kreativität zunehmend erkannt. Unternehmen wie Google haben das Konzept der "20-Prozent-Zeit" eingeführt, in der Mitarbeiter Zeit für unstrukturierte Erkundungen, Tagträume und Experimente haben, ohne sich um konkrete Ergebnisse sorgen zu müssen (13). Diese gezielte Förderung des Tagträumens hat zu einigen der innovativsten Produkte dieser Unternehmen geführt, z.B. Google Maps. Ich (Gründer von Kreativ Reaktor GmbH) habe während meiner Zeit bei Google (2014 - 2020) selbst an einem 20% Projekt gearbeitet und Design Thinking unter anderem in der Google Zukunftswerkstatt unterrichtet. Eine prägende Erfahrung nicht nur für mein weiteres Berufsleben, auch ein Booster für meine privaten kreativen Fähigkeiten.


Schlussfolgerung

Tagträumen ist ein faszinierender mentaler Zustand, der eng mit unserer Kreativität verbunden ist. Es ist nicht nur ein passiver Zeitvertreib, sondern ein komplexer neurologischer Prozess, der verschiedene Hirnregionen aktiviert und unsere Fähigkeit zur Problemlösung und Ideenfindung beeinflussen kann. Das Default Mode Network (DMN) spielt dabei eine zentrale Rolle, indem es uns ermöglicht, uns in unsere Gedankenwelt zu verlieren und neue Verbindungen zwischen Ideen herzustellen.

Verschiedene Arten von Tagträumen haben unterschiedliche Auswirkungen auf unsere Kreativität. Positives-konstruktives und fantasievolles Tagträumen können die Kreativität fördern, während schuldhaft-dysphorisches Tagträumen sie eher hemmt. Bedeutungsvolles Tagträumen ist mit der Entwicklung neuer Ideen und Inspiration verbunden.

Indem wir die neurologischen Prozesse und die verschiedenen Arten von Tagträumen verstehen, können wir dieses mentale Werkzeug gezielt nutzen, um unsere Kreativität zu fördern und neue Perspektiven zu gewinnen. Techniken wie das bewusste Schaffen von Raum für Tagträume, die Nutzung von Routinetätigkeiten und Entspannungstechniken können uns helfen, unsere Fantasie anzuregen und unser kreatives Potenzial zu entfalten.

Tagträumen ist ein wichtiger Bestandteil unseres mentalen Lebens und spielt eine entscheidende Rolle für unsere Kreativität und unser Wohlbefinden. Indem wir lernen, unsere Tagträume zu verstehen und zu nutzen, können wir unser inneres kreatives Potenzial freisetzen und neue Wege der Problemlösung und Ideenfindung entdecken.


Referenzen

1. Neuroscience of Day Dreaming - ShareTechnote, Zugriff am März 10, 2025, https://sharetechnote.com/html/Neuroscience/Neuroscience_DayDreaming.html

2. What happens in the brain while we are daydreaming? - Earth.com, Zugriff am März 10, 2025, https://www.earth.com/news/what-happens-in-the-brain-while-we-are-daydreaming/

3. Scientists Reveal What Happens in the Brain When You Daydream - Newsweek, Zugriff am März 10, 2025, https://www.newsweek.com/neuroscientists-what-happens-brain-daydream-biology-memory-learning-1852066

4. What Happens in the Brain While Daydreaming? | Harvard Medical School, Zugriff am März 10, 2025, https://hms.harvard.edu/news/what-happens-brain-while-daydreaming

5. Investigation on Neurobiological Mechanisms of Dreaming in the New Decade - PMC, Zugriff am März 10, 2025, https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC7916906/

6. The bright side and dark side of daydreaming predict creativity together through brain functional connectivity - PubMed Central, Zugriff am März 10, 2025, https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8764487/

7. The Richness of Inner Experience: Relating Styles of Daydreaming to Creative Processes, Zugriff am März 10, 2025, https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4735674/

8. The Creative Power of Daydreaming | by Dan Martin ... - Medium, Zugriff am März 10, 2025, https://medium.com/illumination/the-creative-power-of-daydreaming-f049174c78e8

9. (PDF) What Types of Daydreaming Predict Creativity? Laboratory and Experience Sampling Evidence - ResearchGate, Zugriff am März 10, 2025, https://www.researchgate.net/publication/343559311_What_types_of_daydreaming_predict_creativity_Laboratory_and_experience_sampling_evidence

10. How Maladaptive Daydreaming Ruins Creativity - Discussing Psychology, Zugriff am März 10, 2025, https://www.discussingpsychology.com/maladaptive-daydreaming/maladaptive-daydreaming-and-creativity/

11. W2C: How Intentional Daydreaming Builds Creativity - Coach ..., Zugriff am März 10, 2025, https://www.coachtrainingedu.com/blog/intentional-daydreaming/

12. Daydreaming & Creativity - Kate Forsyth, Zugriff am März 10, 2025, https://kateforsyth.com.au/articles/daydreaming-creativity/

13. How Controlled Daydreaming Can Be a Powerful Tool for Creativity, Problem-Solving, and Strategic Planning | by Aytekin Tank | The Startup | Medium, Zugriff am März 10, 2025, https://medium.com/swlh/how-controlled-daydreaming-can-be-a-powerful-tool-for-creativity-problem-solving-and-strategic-b930acbe726a


 
 
 

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